08. September 2017 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Es ist der 8. September 2007 und auf der Welt eine Menge los. Wenn sich David Behre richtig erinnert, macht den Bayern gerade die Vogelgrippe zu schaffen und bei den Filmfestspielen von Venedig werden die Preise vergeben. Das hätte er normalerweise abends in den Nachrichten gehört oder in einer Zeitung gelesen. Aber dazu kommt er nicht mehr. Als die Tagesschau beginnt, liegt David im Krankenhaus und kämpft um sein Leben. Bei einem Unfall an einem Bahnübergang in seiner Heimatstadt Moers hat er am frühen Morgen beide Unterschenkel verloren. Er war ein paar Stunden ohne Bewusstsein. Als er wieder aufwacht, merkt er: Seine Füße sind weg. Alles andere läuft wie von selbst ab: „Ich will leben. Ich beginne zu kämpfen. Und ich spüre, dass ich den Kampf gewinnen kann.“
David ist vielen Menschen von ganzem Herzen dankbar dafür, dass sie das Richtige getan haben. Zuerst gilt das für seine Nachbarin Evelyn Mehlan. Sie hört die Schreie und sorgt dafür, dass so schnell wie möglich Hilfe kommt. Anschließend versuchen die Ärzte in der Klinik sogar, Füße und Unterschenkel zu retten. Es gelingt ihnen nicht. David respektiert den Einsatz der Mediziner: „Ich weiß, dass sie ihr Bestes getan haben. Sie haben dafür gesorgt, dass ich weiterleben und in mein zweites Leben sprinten durfte.“
Im Krankenhaus-Fernseher läuft eine Dokumentation über den als „Blade Runner“ bekannten Para-Leichtathleten Oscar Pistorius. Dessen Karriere rüttelt David auf: Das will er auch schaffen. Manche haben ihn vermutlich für verrückt gehalten. Andere stärken und stützen ihn – wie Physiotherapeutin Regine Stelzhamer, die viel Geduld mit ihm hat. Daraus hat sich eine Freundschaft entwickelt. Immer an Davids Seite ist die Familie: seine Mutter Brigitte, sein Vater Matthias, und seine Schwester Esther. „Ich danke euch für eure Unterstützung. Ohne euch hätte ich es nicht geschafft“, betont David.
Hubschrauber, Abtransport, Krankenhaus, Schwestern, Ärzte, erste Gehversuche, Schmerzen, Blut in den Stümpfen, weil er es mit dem Gehen natürlich übertrieben hat – wie konnte das alles funktionieren? Sicher ist für David von Anfang an, dass es kein Zurück gibt und keine Zweifel. „Warum es mich erwischt hat? Diese Frage habe ich mir nie gestellt“, erklärt David Behre. Er ist auf dem Weg, Leichtathlet zu werden. Zum wichtigsten Sportgerät werden die Sprintprothesen. Im Jahr 2008 wechselt er zu Bayer Leverkusen und trifft dort die Trainer-Legende Karl-Heinz Düe. Schon bald stellen sich Erfolge ein – weil Düe ein Fachmann ist und Behre bereit, sich zu quälen. „Für die 400 Meter musst du ein Sadist sein“, sagt Düe einmal, „David kann das.“
Erste Medaillen gewinnt David 2009 bei den World Games des Verbandes für International Wheelchair and Amputee Sports (IWAS). Es ist – nicht einmal zwei Jahre nach dem Unfall – der Beginn einer großen Karriere. 2011 läuft er bei den IPC-Weltmeisterschaften in Neuseeland zum ersten Mal gegen sein Vorbild Oscar Pistorius. 2012 treffen sich die beiden in London gleich zweimal wieder. David Behre wird im Vorlauf über 400 Meter Zweiter und am Ende Fünfter. Das Erlebnis, in einem Wettkampf mit dem „Blade Runner“ aus dem Fernsehen zu stehen, sorgt für eine Gänsehaut.
Bei den Europameisterschaften 2014 in Swansea (Wales) gewinnt David seine erste Einzel-Goldmedaille über 400 Meter, ehe er sich 2015 in Doha (Katar) nach einem begeisternden Rennen zum Weltmeister über 400 Meter kürt und mit der deutschen Staffel auch den Titel über 4×100 Meter holt. Spätestens jetzt ist David ein absoluter Weltklasse-Leichtathlet. Das bestätigt er 2016 bei den Paralympics, die ihm in Rio einen kompletten Medaillensatz bringen: Staffel-Gold, Silber über 400 Meter und Bronze über 200 Meter sind das „Trio de Janeiro“. Über 400 Meter läuft David Behre das beste Rennen seines Lebens und stellt mit 46,23 Sekunden erneut einen Europarekord auf. Was der Deutsche und sein neuseeländischer Rivale Liam Malone (0,03 Sekunden schneller) den Zuschauern zeigen, ist atemberaubend.
Vielleicht konnte es nicht immer nur bergauf gehen, denn 2017 wird schwierig. Die Oberschenkel-Muskulatur macht von Anfang an Probleme. David arbeitet aber verbissen weiter. Schließlicht warten die Weltmeisterschaften in London, bei denen er seinen Titel über 400 Meter verteidigen und wieder Staffel-Weltmeister werden will. David ist Mitte Juli bereits mit der Mannschaft in London, ehe letzte Tests keine andere Entscheidung erlauben: Er sagt alle Starts ab – und die Enttäuschung sitzt tief. David erlebt eine Situation, in die wohl jeder Leistungssportler irgendwann kommt. Aufzugeben oder aufzuhören, war trotzdem nie eine Option: „Ich gebe natürlich nicht auf. Ich werde mich richtig erholen. Das Feuer brennt in mir wie am ersten Tag. Ich werde meinen Traum weiterleben.“ Bei den Weltmeisterschaften 2019, die vielleicht erneut in London sein werden, und bei den Paralympics 2020 in Tokio will David Behre seine Medaillensammlung erweitern.
David denkt in diesen Tagen viel nach, weil er demnächst zehn Jahre alt wird. „Vielleicht hat die Auszeit etwas Gutes. Es ist so verdammt viel passiert, dass ich es selbst kaum glauben kann. An jenem Bahnübergang in Moers begann eine Geschichte, in der ich zum Hauptdarsteller geworden bin. Solche Geschichten kannst du nicht erfinden. Das Leben schreibt sie dir.“ Manchmal kommt es ihm so vor, als läge in allem der Stoff für einen Film. Außerdem könnte sich David vorstellen, noch einmal ein Buch zu schreiben – um andere zu motivieren, um ihnen Mut zu machen. „Sprint zurück ins Leben“ (erschienen am 02.12.2013) passte aus seiner Sicht damals genau, aber danach ging es sportlich erst richtig los: Europameister, Weltmeister, Olympiasieger. „Ich will anderen helfen, Grenzen anzugreifen und zu überwinden“, meint David, „ich will zeigen, dass du selbst aus aussichtslos scheinenden Situationen viel machen kannst.“
Der Kreis schließt sich. Vorläufig. David fasst es zusammen: „Ich habe damals an mich geglaubt und ich wusste, ich werde diesen Kampf gewinnen. Ich habe nicht nur überlebt, sondern ein neues Leben gewonnen. Was wirklich daraus wird, konnte ich natürlich nicht ahnen. Längst lebe ich meinen Traum. Er ist Beruf und Leidenschaft. Ich bin Profi-Sportler und kann damit meinen Lebensunterhalt verdienen. Das wäre sonst nie möglich gewesen. Ich habe viele Länder kennengelernt und viele Freundschaften geschlossen. Am 8. September 2017 bin ich ein glücklicher Mensch.“ Der zehnte Geburtstag im zweiten Leben wird ein echter Festtag. Vielleicht sollte er auch einfach durchfeiern, denn am 13. September wird er 31 Jahre alt.